TIMUR NOVIKOV - IN MEMORIAM

28. Juni - 15. September 2002

Wenn Kunst sich erschlösse wie, das Königreich im Märchen, dann brauchten wir nur Timurs Wink zu folgen, um die drei obliegenden Rätsel zu lösen: er nennt sie Schönheit, Heiterkeit und Mühelosigkeit. Weniger grundsätzlich gesagt, hält er dafür, daß seine künstlerischen Anregungen von freundlicher, durchaus dekorativer Anmutung sein möchten, nicht unernst, nicht einmal unpathetisch, aber doch frei von der Trübsal des sprichwörtlichen Tiefsinns. Aggressivität, auch bildnerische, ist ihm ebenso zuwider wie Nötigung durch Propaganda. Er schwört auf das Selbstverständliche und ist in seiner hoffnungsvoll entwaffnenden Fähigkeit zu genießen seinem kritischen Geist, den er gern kaschiert, möglichst ein wenig voraus.

Was man sein ästhetisches Glaubensbekenntnis nennen könnte, ist bezeichnenderweise offen für die Verarbeitung recht verschiedener, nach herkömmlichem Verständnis teilweise einander ausschließender ÜberIieferungen. Mit seinen frühen Arbeiten erinnert er an die damals noch öffentlich verleugnete Tradition der russischen Avantgarde, also an jenen kubofuturistisch anti-akademischen "Primitivismus", der sich auch Elemente der Volkskunst und der Kinderzeichnung angeeignet hat. Zugleich betreibt er ein poetisches Recycling abgenutzter Agitprop-Embleme. So entstehen im Laufe der 80er Jahre romantizistische Sinnbilder Rußlands und Leningrads, aber auch emblematische Landschaften ferner Länder, wenn nicht überhaupt poetische Gleichnisse des Lebens in "freier Natur". Immer genügen wenige einfache Zeichen, um farbige Stoffmuster in zumeist horizontaler Kombination mittels "semantischer Perspektive" bildhaft zu deuten (Timur meint damit eine "RäumIichkeit", die von der Dimension und dem Stellenwert der verwendeten Zeichen hervorgerufen wird). Dabei haftet den farbenprächtigen Tüchern, die weder aufgespannt noch gerahmt werden sollten, noch ein Rest des ästhetischen Fascinosums an, daß von dem längst verschwundenen sowjetischen Paradedekor ausging.

Schönheit entdeckt Timur schließlich in alten Fotos antiker Skulpturen und in den homoerotischen Aufnahmen von Gloedens. Er verkündet, passend zu dem Gesicht des von sowjetischer Schminke befreiten St. Petersburg, den "Neo-Akademismus". Apollo besteigt den Sockel des Schwarzen Quadrats von Malewitsch, und das Idol Oskar Wilde gesellt sich zu dem verehrten Helden der Revolution Majakowski. Dabei besteht die künstlerische Herausforderung darin, der Massenkultur in ihrer Banalität wie bei der Pop Art ein Stück Traumwelt abzutrotzen. Auf schweren victorianischen Vorhängen erscheint, zentral montiert, das ikonische Motiv des Durchbruchsversuchs vom Kitsch zum Neo-Klassizismus.


Vielleicht ist es der Sinn für die wünschenswerte Alternative zu den jeweils geltenden Konventionen des guten ebenso wie der Ablehnung des schlechten Geschmacks, dem Timur Novikov seit spätestens Mitte der 80er Jahre seine führende Stellung in der Kunstszene seiner Stadt verdankt. Was könnte ihn, der sich um den regelmäßigen Regelverstoß verdient gemacht hat, besser auszeichnen, als der selbstgewählte Titel eines "Kurators für Resistance & Renaissance"?

Jürgen Harten

Timur Novikov, geboren 1958 in Leningrad, starb am 23. Mai 2002 in St. Petersburg.

Timur Novikov

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